Spiritualität und Therapie - Rezension "Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie" herausgegeben von Michael Utsch
Besprechung "Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie"
Spiritualität in Psychotherapie |
„Wie gehen Psychotherapeuten professionell mit Themen der Religion und Spiritualität bei ihren Patienten um?“
Das ist die Kernfrage des
hier zu besprechenden Buches.„In der deutschsprachigen Psychotherapie und Psychiatrie
werden diese Fragen erst seit Kurzem intensiver und kontrovers diskutiert“, schreibt
Michael Utsch, der Herausgeber, im Vorwort. Einerseits würde die Ablehnung von spirituellen
Interventionen in der Psychotherapie mit zu hohen Missbrauchsrisiken und der
Forderung nach kategorialer Trennung von Wissenschaft und Glaube begründet. Andererseits
sei auch bei Atheisten ein „unglaubliches Bedürfnis zu glauben“ vorhanden und
ein Gefühl, „dass die sichtbare (‚objektive‘) raumzeitliche Wirklichkeit nicht
die einzige ist“. Bei gemeinsamen Glaubensüberzeugungen von Therapeut und
Klient könnten besondere Ressourcen aktiviert werden, insbesondere bei der
Behandlung von muslimischen Migranten, solange ihre kulturellen Besonderheiten
respektiert würden.
Seit 1994 gibt es im DSM-IV die Diagnose „religiöses oder
spirituelles Problem“ (V 62.89). Auch in Deutschland wird, so Utsch, „das
Konzept der spirituellen Krise mittlerweile genauer in den Blick genommen und
in Behandlungen angewendet“. Aber bei weitem unbefangener und
selbstverständlicher als im deutschsprachigen Raum werde in den
englischsprachigen Ländern schon seit langem darüber diskutiert und geforscht,
wie therapeutisch angemessen mit psychischen Erkrankungen, bei denen Religion
und Spiritualität eine Rolle spielen, umgegangen werden sollte. In den USA „mit
ihrer gänzlich anderen Religionskultur“würden Wissenschaftler die gezielte
Einbeziehung von religiös-spirituellen Lehren und Praktikene pfehlen. Metastudien
hätten die Wirksamkeit religionsangepasster spiritueller Psychotherapie nachgewiesen, besonders bei
hochreligiösen und spirituellen Patienten. Allerdings sollten religiöse und
spirituelle Elemente nicht einfach zu einer etablierten säkularen
Psychotherapie hinzugefügt werden, da sich dabei keine überprüfbaren
Verbesserungen zeigen würden.
Die „Polarisierung von unversöhnlichen politischen und
religiösen Standpunkten, Feindbildern und fundamentalistische Gesinnungen“ zeigt
für Utsch, wie wichtig „interkulturelle und interreligiöse Verständigung“ und „religionspsychologische
Verständigungshilfen“ sind. Psychotherapeuten müssen über „Globalisierung,
Nationalismus und Integration“ aufgeklärt werden. Transkulturelle Psychiatrie
und Psychotherapie mit Stärkung transkultureller Kompetenz müssten gefördert
werden, um die Chance auf eine „friedliche transkulturelle Globalisierung“ zu
verbessern. Psychotherapeutische Behandlungen könnten „Lernorte sein,
verschiedene weltanschauliche Standpunkte zu reflektieren und miteinander ins
Gespräch zu bringen“.
Fallvignetten, bei denen Religion und Spiritualität der Patienten bedeutsam sind
Den Hauptteil des Buches nehmen 20 Fallgeschichten aus dem
Berufsalltag von 14 Psychiatern und Psychotherapeuten unterschiedlicher Therapieschulen und Konfessionen ein. Die Autoren des Buches
sehen in allen 20 Fallgeschichten „Spiritualität und Religiosität als Teil des
Problems der Patienten, aber auch als Teil der Lösung. (…) Die Sehnsucht nach
Spiritualität, nach Verbundenheit mit einer geistigen Sphäre, nach einer
unsichtbaren Welt“ sei „ein Grundbedürfnis im menschlichen Leben, das jeweils
mit kulturell und individuell unterschiedlich ausgeprägten Vorstellungen
erfüllt wird. (…) In unseren Fällen geht es um den Umgang mit Schuld und Schuldgefühl,
Vergebung und Verzeihung (...), um die Frage nach dem einheitlichen
Ich-Bewusstsein in psychotischem oder Depersonalisationserleben (…), um die
Probleme hochreligiöser Patienten, die medizinische Krankheitskonzepte und eine
leitliniengerechte Behandlung nicht annehmen können oder verweigern (…) oder
die sich in einem rein säkularen Medizinbetrieb nicht aufgehoben, nicht
verstanden fühlen und dadurch – gerade auch am Ende ihres Lebens – spirituell
vernachlässigt sind (...).“
Die Autoren betonen die Notwendigkeit interkultureller
Sensibilität und Kompetenz von Therapeuten im Umgang mit Patienten mit
Migrationshintergrund. „So können Ängste vor Leid, Leiden und Tod in einer zur
Herkunftskultur verschiedenen kulturellen Umgebung oft nicht ausgedrückt und
nicht nachvollzogen werden.“ Thematisiert werden auch der Missbrauch von
Religion“ und „unerfüllte spirituelle Sehnsüchte bei Patienten, die ohne
religiöse Erziehung aufgewachsen sind, wie etwa in der damaligen DDR (…). An
den Grenzen der Medizin kann der Rückgriff auf die spirituelle Dimension tragen
und Schutz bei körperlich invasiven Methoden bieten. Gerade am Ende des Lebens
ist ‚spiritual care‘ besonders wichtig (…).“
Die Empfehlungen der DGPPN zum Umgang mit Religiosität
und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie (an denen die Autoren des
Buches mitgewirkt haben: Utsch et al., 2017) legen allen „beraterisch und
therapeutisch Tätigen“ nahe, sich in der Selbsterfahrung und Supervision „interkulturelle
und religionssensible Kompetenz “zu erwerben und die eigenen „spirituellen
Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen“ zu reflektieren, um „gegenüber
Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturen und weltanschaulichen Prägungen
die Perspektive wechseln zu können.“Therapeuten sollten „in der Lage sind, ihr
aktuelles eigenes Welt- und Menschenbild zu beschreiben. Woraus schöpfen sie
selbst Hoffnung und Vertrauen angesichts so mancher Tragik der menschlichen
Existenz, die ihnen täglich in den Patientengeschichten begegnet? Was gibt
ihnen die Kraft, Patientinnen und Patienten in Sinnkrisen Mut zu machen, ihre
Verzweiflung mit auszuhalten und sie hilfreich zu begleiten?“
Die Anamnese sollte nach der Spiritualität der Patienten
fragen, auch wenn die „Behandler selbst nicht religiös sind. Nur so kann
herausgefunden werden, ob Religion und Spiritualität einen Belastungsfaktor
oder eine Ressource darstellen, die bei der Therapieplanung mit zu
berücksichtigen ist. (…) Spirituelle Interventionen dürfen (von den Behandlern)
nicht selbst vorgenommen werden“, sondern „allenfalls an Seelsorger, Gemeinden
oder Imame und Rabbiner weitervermittelt werden. (…) Bei der Behandlung sollte
man auf respektvolle Weise religiös neutral bleiben, wenngleich der jeweilige
eigene weltanschauliche Hintergrund für den Patienten transparent sein sollte.“
Vorteilhaft sei eine gute „‘Passung‘ der weltanschaulichen Grundhaltung
zwischen Behandeltem und Behandler, wenn beispielsweise ein hochreligiöser
Patient weiß, dass auch der Behandler derselben Religionsgemeinschaft angehört
oder zumindest versteht, worum es dem Patienten bei Problemen mit seiner
Spiritualität geht.“
Kritische Würdigung des Buches
In wesentlichen Punkten decken sich die Positionen und
Empfehlungen von Michael Utsch und seinen Mitautoren mit denen, die meine Mitautoren
aus der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie und ich in unserem Lehrbuch „Praktischer
Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten Richtlinientherapie -Wissenschaftliche
Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken“(im
Kapitel „Wie ist mit religiösen bzw. spirituellen Themen umzugehen?) vertreten.
Herr Utsch und seine Mitautoren (die auch am Positionspapier der DGPPN, 2016, mitwirkten)
haben sich aber mit der Thematik ungleich umfassender beschäftigt und untermauern
das, was sie ethisch und Behandlungstechnik für richtig halten, durch eine
solide wissenschaftliche und empirische Grundlage.
Besonders eindrucksvoll sind die vielen kurzen
Fallvignetten, die ganz unterschiedlichen ambulanten und klinischen,
psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontexten entstammen und sehr
verschiedenartige Krankheitsbilder und Patientengruppen sowie ein breites
Spektrum an Behandlungsansätzen repräsentieren. Beim Lesen der 20 Fälle, die mich
zum Teil sehr berührt haben, wurde mir noch deutlicher als bisher, welche ungeheure
Herausforderung darin besteht, in der Therapie der Komplexität der spirituellen
und existentiellen Dimension von psychischer Krankheit und vor allem jedem
einzelnen der so verschiedenartigen Betroffenen auch nur halbwegs gerecht zu
werden.
Einige Fälle, bei denen Patienten mit
Migrationshintergrund betroffen sind, zeigen anschaulich, wie wichtig die
Berücksichtigung des spezifischen kulturellen und religiösen Hintergrunds der
Patienten ist. Der entscheidende therapeutische Durchbruch gelang nicht etwa durch
die Anwendung westlicher evidenzbasierter psychiatrischer Leitlinien, sondern
durch die respektvolle und sensible Nutzung der spezifischen Ressourcen und
Bewältigungsstrategien aus der Kultur der Patienten. Deutlich wird aber auch,
wie stark der kulturelle und religiöse Hintergrund bei der Krankheitsentstehung
eine Rolle spielen kann. Insofern wird die Forderung der Autoren nach einer
routinemäßigen spirituellen Anamnese durch die Fallbeispiele eindrucksvoll
unterstrichen.
Mehrere Fälle haben mich persönlich sehr bewegt. Das war
insofern erstaunlich, als fast alle Autoren den typischen künstlichen
psychoanalytischen Schreibstil, wie er mitunter heute noch bei der Abfassung
von Berichten an den Gutachter üblich ist, an den Tag legen. Die Autoren kommen
in ihren Fallberichten als emotional betroffenes, in der Interaktion
reagierendes und agierendes Gegenüber des Patienten kaum vor. An den Stellen,
an denen der Bezug zur eigenen Person unvermeidlich wird, heißt es zum Beispiel:
„Es wurden mehrere Angehörigengespräche mit dem Ehemann geführt.“ Oder „Am Folgetag wird die Patientin
vom Stationsarzt gesehen.“ Oder: „Der Patientin wird erklärt, dass …“ Warum bilden
die Autoren überwiegend solche Passivsätze und vermeiden das naheliegende und
natürliche „Ich“ in der Aktivform, zum
Beispiel: „Ich habe mehrere Gespräche mit den Ehemann geführt“?
Dieser Schreibstil stammt aus einer Zeit, als Nervenärzte
und Psychoanalytiker noch glaubten, ihren Patienten gegenüber völlig neutral
und objektiv sein zu können. Wir wissen heute, dass unsere Wahrnehmung als
Therapeuten und unsere Beurteilung des Patienten alles andere als neutral und
objektiv ist, obwohl wir uns zurecht noch immer darum bemühen, möglichst wertneutral
zu bleiben. Für mich ist der pseudoobjektive Schreibstil ein Anachronismus, wodurch
in den Fallvignetten die psychodynamisch überaus wichtige Gegenübertragung der
Therapeuten oft unsichtbar bleibt. Die subjektive Betroffenheit der Therapeuten
hätte mich als Leser sehr interessiert und hätte den Fallvignetten noch mehr
Lebendigkeit verliehen.
Jeder der 20 Fallbeschreibungen wird von einem anderen Autor kommentiert. Die
meisten Kommentare tragen dazu bei, den Praxisbezug der ethischen und behandlungsstrategischen
Postulate des Buches noch deutlicher zu machen. Einige Kommentare, vor allem
gegen Ende des Buches, schwingen sich zu philosophischen Höhen auf, in denen
ich mich sehr anstrengen musste, sie zu verstehen und einen Praxisbezug noch zu
erkennen. Ich hatte aber trotz des Stils an den meisten Stellen des Buches den
Eindruck, dass die Autoren und Kommentatoren mehr als nur ein intellektuelles
wissenschaftliches, philosophisches oder behandlungstechnisches Interesse
verfolgen. Ganz überwiegend meinte ich in den Texten tiefe Herzensanliegen der
Autoren zu spüren. Wie schade, dass wir uns noch immer scheuen, als Therapeuten
und als Lehrer für Psychotherapie auch der Sprache unseres Herzens Ausdruck zu
verleihen, vielleicht aus Angst, wir könnten dann wissenschaftlich nicht mehr
ernst genommen werden.
Insgesamt habe ich das Buch mit Gewinn und teilweise sogar mit
Betroffenheit gelesen. Ich kann allen psychiatrisch und psychotherapeutisch tätigen
Kollegen unbedingt empfehlen, es zu lesen.
Hier noch einmal die Buchdaten:
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
ISBN Print: 9783525402962 — ISBN E-Book: 9783647402963
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Hier noch einmal die Buchdaten:
Eckhard Frick, Isgard Ohls, Gabriele Stotz-Ingenlath, Michael Utsch (Hg.):Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
ISBN Print: 9783525402962 — ISBN E-Book: 9783647402963
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